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Arbeitersolidarität von den Officine Bellinzona zu den kämpfenden Belegschaften in Serbien

erstellt von swiss zuletzt verändert: 14.03.2010 18:10
Samstagabend, 6. März 2010 in den Officine von Bellinzona. Es ist eine ergreifende Szene in der grossen Halle der „Pittureria“, am Fest zum 2. Jahrestag des erfolgreichen Streiks. Im Namen der kämpfenden RAŠKA-TextilarbeiterInnen in Serbien verkündet Seneda Rebronja unter dem Applaus der Anwesenden: „Auch wir wollen siegen wie ihr in den Officine von Bellinzona, und dann machen auch wir ein grosses Fest, zu dem wir euch alle einladen werden!" Die aus einer Pappschachtel improvisierte Spendenbüchse geht reihum. Im Nu kommt eine grössere Summe zusammen zur Unterstützung des Arbeiterkampfes in Serbien. Das „Volk der Officine“, die ArbeiterInnen und ihre UnterstützerInnen, haben die Solidarität nicht vergessen, die ihnen vor zwei Jahren entgegenströmte, und heute helfen sie jenen, die noch immer im Kampf stehen.
Arbeitersolidarität von den Officine Bellinzona zu den kämpfenden Belegschaften in Serbien

Streik der TextilarbeiterInnen von RAŠKA in Novi Pazar

Es ist ein Gefühl, das schwer beschreibbar ist und das nur wirklich erfassen kann, wer dabei gewesen ist: Diese deutlich fühlbare, starke Verbundenheit ganz unterschiedlicher Menschen, die sich nie zuvor gesehen haben, nur mit Hilfe von Dolmetschern miteinander sprechen können und dennoch ganz genau spüren, dass sie für die gleichen Ziele kämpfen, an weit entfernten Orten und zu verschiedenen Zeiten. Die Kraft, die aus solchen Begegnungen fliesst, gibt eine kleine Ahnung von der unbesiegbaren Macht der Solidarität von Menschen, die um ihre Rechte kämpfen und sich durch nichts von ihren Zielen und Idealen abbringen lassen.

Es ist diese zähe, entschlossene, fast verbissene Verteidigung menschlicher Würde und moralischer Werte, die niemals wird verstanden werden können beispielsweise von jenen, die im Solde der Herrschenden die Zeitungsspalten füllen und voreilig von „Verzweiflungstaten“ schreiben, wenn gekämpft wird, wo andere längst aufgegeben hätten. Es ist die Macht der Ohnmächtigen, die den eigenen Körper, ja sogar das eigene Leben als Waffe einsetzen, dadurch die Mächtigen in Angst und Schrecken versetzen und sie so zum Nachgeben zwingen. Denn es ist diese radikale Art, die ihnen ihre eigene Vergänglichkeit und die Zerbrechlichkeit ihrer auf Bestechung und Einschüchterung beruhenden Macht vor Augen führt. Die Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit eines widersinnigen und unmenschlichen Systems, das nur solange funktionieren kann, als jene, die darunter leiden, sich nicht zusammenschliessen und erheben.

Es braucht eine vorurteilslose Betrachtungsweise, um zu begreifen, dass es ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche ist, was auf den ersten Blick als blosse „Selbstverstümmelung“ anmutet. Es ist eine Weile her, seit 1996 die Belegschaft des Textilkombinats RAŠKA in Novi Pazar im Süden Serbiens in den Zwangsurlaub beordert wurde. Die Männer wurden sogleich eingezogen und in den Krieg geschickt, die Frauen nach Hause. Zehn Jahre später, der Krieg ist längst zu Ende, die ausstehenden Löhne aber sind noch immer nicht ausbezahlt. Da tritt die Belegschaft, die zu vier Fünfteln aus Frauen besteht, in den Streik um zu fordern, was ihr gehört: neben den Löhnen auch die Beiträge für die Altersvorsorge, die in all den Jahren ebenfalls nicht einbezahlt worden sind. Diese sind nämlich genauso wichtig wie die Löhne, seit Altersrenten neben Kindergeld oft die einzige Einkommensquelle für ganze Familien sind.

Die Abwesenheit der Belegschaft hatten skrupellose Direktoren und Aufsichtsräte benützt, um die gesetzlich zugesicherten Rechte und Anteile der RAŠKA ArbeiterInnen dem Staat zu verschachern. Üblicherweise gehören in Serbien etwa 40 Prozent der Aktien eines Unternehmens dem Staat und 60 Prozent denen, die in der Zeit der Selbstverwaltung dort gearbeitet hatten. Das ist die Formel, mit der das Milošević-Regime die Fabriken, die vorher niemandem und allen gehört hatten, zu „rechtmässigem Eigentum“ gemacht hat. All die Tricks und Betrügereien, mit denen überall in Jugoslawien die Arbeiterinnen und Arbeiter um ihre Anteile gebracht worden sind oder noch immer gebracht werden, würden ganze Seiten füllen, weshalb hier nicht näher darauf eingegangen werden kann. Bei RAŠKA jedenfalls stehen sie plötzlich mit leeren Händen da, die sie dafür im Kampf um ihre Rechte umso entschlossener einsetzen. So ist es beispielsweise nötig gewesen, den Direktor zuerst zu würgen, um überhaupt Einsicht in die Bücher zu bekommen.

Um die Sache zu beenden, bietet die Regierung der RAŠKA Belegschaft als Abfindungssumme zehn Monatsgehälter an – eine beschämende Summe im Vergleich zu den ausstehenden Löhnen und Altersvorsorgebeiträgen aus zehn Jahren! Die ArbeiterInnen lehnen das Angebot der Regierung ebenso ab wie den Vorschlag, ihre Anliegen durch erfahrene Gewerkschaftsfunktionäre vertreten zu lassen. Enttäuscht von den alten und neuen, sog. „unabhängigen“ Gewerkschaften, nehmen die RAŠKA ArbeiterInnen ihr Schicksal in die eigenen Hände. Sie gründen die „Vereinigung der TextilarbeiterInnen von Novi Pazar, Sjenica und Tutin“ und wählen einen aus ihren Reihen, Zoran Bulatović, zu ihrem Vorsitzenden.

Im Zentrum von Novi Pazar besetzen die TextilarbeiterInnen ein öffentliches Gebäude und machen es zu ihrem Gewerkschaftshaus. Dort verbarrikadieren sie sich und füllen vorsorglich Flaschen mit Benzin. Für den Fall, dass die Polizei das Gebäude stürmen sollte. Die Regierung weicht der direkten Konfrontation aus und hat einen anderen Plan: Statt die legitimen Forderungen der ArbeiterInnen zu erfüllen, beschliesst sie, RAŠKA in den Konkurs zu schicken. Auf diese Weise will sie ihre finanziellen Verpflichtungen loswerden und die 1523 Arbeiterinnen und Arbeiter leer ausgehen lassen. Die Medien schweigen das Thema tot, so dass im Jahre 2008 ein erster Hungerstreik der ArbeiterInnen ergebnislos zu Ende geht.

Senada Rebronja ist alleinstehende Mutter von drei Kindern, eines davon pflegebedürftig, und lebt bei ihren betagten Eltern. Als es im Frühling 2009 aussieht, als würde ein zweiter Hungerstreik erneut ohne Wirkung bleiben, beschliesst sie zusammen mit einigen anderen Frauen, zu einem extremen Kampfmittel zu greifen. Niemand soll wissen, was zu tun sie im Sinne hat. Doch Frauen haben oft das Bedürfnis, jemandem mitzuteilen, was sie auf dem Herzen haben. Zoran Bulatović kommt das Vorhaben zu Ohren, und bevor Senada Rebronja es hätte ausführen können, schreitet er selbst zur Tat: Er hackt sich den kleinen Finger der linken Hand ab und führt ihn den in Scharen herbeigeeilten Medienleuten vor.

Nun schafft es das vergessene Textilkombinat im Süden Serbiens sogar in die westlichen Medien: Wenn Arbeiter zu Kannibalen werden“,  titelt beispielsweise die deutsche TAZ und will damit unter Beweis stellen, wie wenig sie vom Kampf der ArbeiterInnen versteht. Von „Selbstverstümmelung, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit“ ist da die Rede. Und kein einziges Wort darüber, dass die serbische Regierung sogleich auf den geplanten Konkurs verzichtet. Der zuständige Minister sieht sich gezwungen, öffentlich zu erklären, es habe sich um ein „Missverständnis“ gehandelt... Diesmal hat der Hungerstreik der Frauen - dank dem drastischen Akt von Zoran Bulatović - Wirkung gezeigt. Die ArbeiterInnen von RAŠKA haben ein erstes Ziel erreicht und die Konkurseröffnung über ihren Betrieb erfolgreich verhindert.

Seit jenen dramatischen Tagen im Mai 2009 geht im ganzen Land ein geflügeltes Wort um: „Mit dem kleinen Finger Serbien bewegen“. Der Kampf der ArbeiterInnen bei RAŠKA gleicht jenem bei INNSE in Mailand, als im August 2009 vier Arbeiter und ein Gewerkschaftsfunktionär in die von starken Polizeikräften umzingelte Fabrikhalle gelangten und dort einen Kran in luftiger Höhe eroberten. Sie drohten sich hinunterzustürzen, falls die Polizei sich nicht zurückziehe, berichtete daraufhin sogleich das italienische Fernsehen im Chor mit allen Tageszeitungen. Die vier Arbeiter auf dem Kran hatten keineswegs die Absicht, sich in die Tiefe zu stürzen. Doch weil den Medienleuten der Kampf der ArbeiterInnen völlig fremd ist, braucht es, damit sie sich überhaupt dafür interessieren, in Italien solche Drohungen - und in Serbien einen abgehackten Finger.

Die Arbeiter der Officine haben sich sogleich darin erkannt, als an ihrem Fest Branislav Markuš, der dritte Teilnehmer der serbischen Arbeiterdelegation, vom Kampf seiner Belegschaft erzählt: Denn auch die 350 ArbeiterInnen von Jugoremedija in Zrenjanin, einem Arzneimittelwerk im Norden Serbiens, haben als Erste in ihrem Land nicht nur gestreikt, sondern auch den Betrieb besetzt, um sich gegen die Privatisierung zu wehren. Die Regierung hatte die staatlichen Anteile an einen Spekulanten verkauft, dem es mit üblen Machenschaften gelang, die Kontrolle über das ganze Unternehmen zu erlangen. Erst nachdem die ArbeiterInnen während drei Tagen und Nächten auch noch das Ministerium in Belgrad belagert hatten, lenkte die Regierung ein und erklärte die Verkaufsverträge mit dem dubiosen Geschäftsmann für nichtig, so dass Jugoremedija nun wieder zu rund 60 Prozent der Belegschaft gehört – der Staat ist in der Minderheit und muss sich fügen. 

Seit Jugoremedija den privaten Besitzer und Spekulanten losgeworden ist, geht es wieder aufwärts mit dem Unternehmen. Es wurde sogar zusätzliches Personal eingestellt: Heute arbeiten dort hundert Menschen mehr als zur Zeit der Privatisierung. Zur Erinnerung: Auch in den Officine von Bellinzona sind ein Jahr nach dem Streik 31 Zeitarbeiter fest angestellt worden sind, und noch immer muss die Direktion alle betrieblichen Entscheide, welche die Belegschaft betreffen, vorgängig mit dem Streikkomitee absprechen. So ist im vergangenen Jahr das unter dem Namen Kaizen bekannte Arbeitsmodell gekippt und durch eine auf der Grundlage der Vorschläge der Belegschaft ausgehandelte Arbeitsorganisation ersetzt worden.

So isoliert die einzelnen Beispiele auch sind, Jugoremedija hat den Beweis erbracht, dass es keine Privatunternehmer braucht, um zu produzieren. Im Gegenteil, seit der Betrieb von den ArbeiterInnen selbst verwaltet wird, läuft er besser als vorher. So erstaunt es nicht, dass in der Region von Zrenjanin verschiedene Betriebe dem Beispiel von Jugoremedija gefolgt sind und ebenfalls erfolgreich gegen die Privatisierung kämpfen.

Haben die ArbeiterInnen bei Jugoremedija zumindest vorläufig ihr Ziel erreicht, so stehen ihren KollegInnen bei RAŠKA möglicherweise die entscheidenden Kämpfe erst noch bevor. Als nächstes sollen die sieben Betriebe des ehemaligen Textilkombinats versteigert werden. Interessenten aus Deutschland, Italien und der Türkei gebe es mir als genug, versichern Senada und Zoran und machen auch gleich klar, weshalb sie im Moment nur aufmerksam verfolgen, wie sich die Dinge entwickeln: Sie wollen den Behörden keinen Vorwand liefern, um RAŠKA erneut in den Konkurs schicken. Sollte es jedoch der Regierung einfallen, die Versteigerung – wie oft geschehen - so zu organisieren, dass das Ganze für ein Butterbrot an irgendeinen regierungsnahen Spekulanten geht, dann werden sie nicht zögern, sogleich die entsprechenden Kampfmassnahmen zu ergreifen.

Auf den ersten Blick mag es erscheinen, als würden die Belegschaften von Jugoremedija und RAŠKA eine gegensätzliche Strategie verfolgen: Während jene gegen die Privatisierung gekämpft hat, verlangt diese gerade umgekehrt, dass der Staat einen neuen (privaten) Besitzer für ihre Fabrik suche. Wie ist es möglich, dass die ArbeiterInnen an einem Ort vehement gegen die Privatisierung kämpfen, während an einem andern Ort sie umgekehrt eine solche fordern? Das Beispiel macht klar, dass es sich nur um die äussere Form handelt, mit der die Ausbeutung der Lohnarbeit organsiert wird. Ob der Betrieb dem Staat oder einem privaten Kapitalbesitzer gehört, es macht für die ArbeiterInnen keinen Unterschied, wer ihre Rechte mit Füssen tritt. Entscheidend ist, ob es ihnen gelingt, sich gemeinsam dagegen zur Wehr zu setzen. Und im parasitären, zerfallenden Kapitalismus steht immer stärker der Kampf gegen die Schliessung der Betriebe im Zentrum. Dabei zeigt es sich, dass der Staat mit seinem Unterdrückungsapparat sich nicht wie früher darauf beschränkt, die Ausbeutung der Lohnarbeit zu gewährleisten, sondern immer häufiger auch die Zerstörung der Produktionsmittel der Lohnabhängigen organisiert.

Es ist eindrücklich, wie sich die Verhältnisse gleichen: Nicht nur im ehemals „sozialistischen“ Jugoslawien werden Betriebe an skrupellose Spekulanten verschachert. Auch im „kapitalistischen“ Italien hatte der Schrotthändler Genta die INNSE für den Preis einer Eigentumswohnung (700'000 Euro) dem Staat abgekauft. Die Beispiele zeigen, wie hilflos und naiv generelle Forderungen nach „Verstaatlichung“ sind, so als wäre der Staat der natürliche Verbündete aller Lohnabhängigen. Vielmehr ist es immer häufiger der Staat, dem die ArbeiterInnen als direkten Feind begegnen und mit dem sie sich herumschlagen müssen: Bei Jugoremedija „gegen die Privatisierung“, um den Verkauf an einen Spekulanten rückgängig zu machen, bei RAŠKA „für die Privatisierung“, um den Konkurs und damit den Verlust ihrer Forderungen zu verhindern sowie durch den Verkauf an einen privaten Besitzer die Weiterführung der Produktion zu ermöglichen.

Die Forderung, dass der Globalisierung der Konzerne die Globalisierung der Arbeiterkämpfe entgegenzusetzen sei, bleibt unverbindlich und leer, solange sie nicht mit Inhalten gefüllt wird. Der Besuch der serbischen Arbeiterdelegation hat nicht nur bestätigt, dass die ArbeiterInnen in allen Ländern die gleichen Probleme haben. Am Fest der Officine von Bellinzona ist daraus ein vorbildliches Beispiel konkreter Arbeitersolidarität geworden.

 

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